Schadet zu viel Sex?
Das Dilemma der Psychologen beginnt schon mit der Definition eines kritischen Quantums. Beim Alkohol liegt der Fall klar: Eine Flasche Schnaps täglich wird den Konsumenten auf Dauer mit großer Wahrscheinlichkeit ins Verderben führen.
Aber schadet auch zu viel Sex? Der menschliche Körper kann selbst eine Dosis von einem halben Dutzend Orgasmen täglich völlig schadlos überstehen. Dennoch fahnden die Apologeten des Sexsucht-Konzepts nach einer Orgasmus-Zahl, die auf krankhafte sexuelle Gier hinweist - eine recht willkürliche Grenze, die meist einfach nur vom Überschreiten des Durchschnittswerts abgeleitet ist.
Damals noch frei von jeglicher moralischen Wertung, hatte der Sexforscher Alfred Kinsey 1948 die Anzahl der Orgasmen ermittelt, die die US-Bürger durch Beischlaf oder Masturbation insgesamt innerhalb einer Woche erreichten. Der Durchschnitt kam etwa ein- bis dreimal die Woche. Spitzenwerte verbuchten vor allem Männer bis zur Altersgrenze von 30 Jahren: Mindestens siebenmal pro Woche brachte sich diese Gruppe - vorzugsweise mit der Hand - zum Höhepunkt.
Neuere Studien haben Kinseys Befund erhärtet: Zwischen fünf und zehn Prozent der amerikanischen Männer arbeiten sich demnach siebenmal in der Woche oder gar öfter zum Klimax vor.
"Bei allem, was über sechs liegt, spitze ich die Ohren", folgert daraus Martin Kafka, Psychiater von der Harvard Medical School. Mit scheinbar wissenschaftlicher Präzision hat Kafka vorgegeben: Sexabhängig sind all diejenigen Menschen, die über einen Zeitraum von sechs Monaten wöchentlich mindestens sieben Orgasmen erlebten und sich täglich "ein bis zwei Stunden mit solchen Aktivitäten beschäftigen".
Jüngst hat der Psychiater den Katalog um weitere Kriterien ergänzt. Als pathologisch seien demnach solche Personen einzustufen, deren sexuelle Phantasien und Verhaltensweisen
-so viel Raum einnehmen, dass sie für sonstige, nichtsexuelle Aktivitäten und Pflichten kaum noch Zeit finden;
-als Reaktion auf Angstzustände, Missstimmung und Langeweile auftreten;
-wiederholt als Antwort auf nervenaufreibende Ereignisse erfolgen.
Immerhin schränkt Kafka ein: "Exzessives hypersexuelles Verhalten ohne persönliche Not kann nicht als krankhaft bezeichnet werden." Entscheidend sei der mit dem übersteigerten sexuellen Verlangen verbundene Leidensdruck.
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,761097-2,00.html
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